Wie die Regierung in Mexiko Aktivisten und Journalistinnen ausspioniert

Hintergrund

Zwischen Januar 2015 und Juli 2016 wurden in Mexiko 12 Personen bespitzelt - darunter Partnerinnen der Heinrich-Böll-Stiftung. Dabei wurde die Software Pegasus verwendet, die Regierungen sonst im Kampf gegen Terrorismus und kriminelle Organisationen einsetzen.

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Der Einsatz von Spyware stellt eine neue Dimension der Repression in Mexiko dar

Am 20. April 2016 erhielt Mario Patrón eine SMS mit einem Link. Die Nachricht eines unbekannten Absenders bezog sich auf die Veröffentlichung des Untersuchungsberichtes der internationalen Expert/innenkommission (GIEI) zu dem Fall der 43 verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa. Der Bericht sollte die Annahme der Regierung, die Studenten seien auf einer Müllhalde verbrannt worden, widerlegen.

Die SMS weckte Patróns Interesse, er klickte auf den Link, der ihn jedoch auf eine leere Seite leitete. Es war ein Klick zu viel. Die SMS hatte nur einen Zweck: unbemerkt eine sogenannte spyware auf dem Mobiltelefon zu installieren, die alle Nachrichten, Bilder, Adressen einsehen und sogar das Mikrofon und die Kamera aktivieren kann. Zwei weitere Kolleg/innen des Menschenrechtszentrums enthielten ähnliche SMS.

Mario Patrón ist Direktor des Menschenrechtszentrums Centro Prodh, einer der wichtigsten Menschenrechtsorganisationen Mexikos und Partnerorganisation der Heinrich-Böll-Stiftung. Das Menschenrechtszentrum begleitet seit 2014 den Fall Ayotzinapa, so wie viele andere Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Land.

Zwischen Januar 2015 und Juli 2016 wurden in Mexiko 12 Personen, unter ihnen Menschenrechtsverteidiger/innen, Journalist/innen und Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen bespitzelt. Wie im Falle Patróns wurde dabei die Software Pegasus verwendet, die sich anhand eines Links im Handy einnistet. Das Brisante: Die israelische Firma NSO verkauft Pegasus offiziell ausschließlich an Regierungen, damit diese sie im Kampf gegen Terrorismus und kriminelle Organisationen einsetzen können.

Die Überwachung zivilgesellschaftlicher Akteure in Mexiko ist nichts Neues, der Einsatz der Spyware stellt jedoch eine neue Dimension der Repression dar. Den betroffenen Organisationen deutet alles darauf hin, dass die mexikanische Regierung für die digitalen Attacken verantwortlich ist.

Organisationen veröffentlichen Bericht über 12 Spionage-Fälle

Am 19. Juni 2017 veröffentlichten die Organisationen Article 19, SocialTic, R3D und das kanadische Forschungszentrum Citizen Lab einen detaillierten Bericht, in dem sie über 12 Fälle von Cyberattacken informieren. Neben CentroProdh ist eine weitere Partnerorganisation der Heinrich-Böll-Stiftung Mexiko betroffen: El Poder del Consumidor und ihr Direktor, Alejandro Calvillo. Gemeinsam mit Akteuren aus dem Gesundheitssektor setzen sie sich für eine Steuer auf stark zuckerhaltige Softdrinks wie Coca-Cola ein. Übergewicht und Diabetes sind in Mexiko mittlerweile in hohem Maße besorgniserregend verbreitet.

Calvillo und einige seiner Mitarbeiterinnen erhielten während der Kampagne Nachrichten mit Pegasus-Links. Ebenfalls betroffen sind Mitarbeiter einer NGO, die an einem Antikorruptionsgesetz arbeiten und regierungskritische Journalist/innen, allen voran Carmen Aristegui. Sogar Aristeguis minderjähriger Sohn, der in den USA lebt, erhielt Nachrichten mit dem Link, der eine Überwachung seines kompletten Kommunikationsnetzes ermöglichte.

Insgesamt wurden 76 Nachrichten mit dem Pegasus-Link verschickt. Und zwar nicht zufällig, sondern gezielt. Alle Opfer wurden in Momenten gehackt, als sie sich in einer wichtigen Phase ihrer Arbeit befanden und regierungskritische Informationen veröffentlichten. Es ist offenkundig, dass die Täter die Zielpersonen genau analysiert haben und Schwachstellen identifizieren konnten, um sie zu einem Klick auf den Link zu verleiten. Im Fall Aristeguis wurden sogar Nachrichten im Namen der US-Botschaft verschickt, in denen sie auf ein Problem mit ihrem Visum aufmerksam machten.

Die neue Dimension der Überwachung

„Es ist nicht neu, dass wir beobachtet werden“, sagt Patrón in einem Gespräch mit der Heinrich-Böll-Stiftung Mexiko:

„Wir können hier von einer alten und einer neuen Methode sprechen. Wir bekommen schon länger Morddrohungen über soziale Netzwerke, vor unserem Büro tauchen Leute auf, die uns beobachten und uns folgen, insbesondere dann, wenn wir gerade Fälle bearbeiten, in denen die Regierung involviert ist. Jetzt haben wir es mit einer neuen Methode zu tun. Anhand der neuen Technologien kann eingesehen werden, was wir machen, wo wir hinfahren, mit wem wir kommunizieren. Dafür müssen sie nicht mehr einbrechen und die Computer stehlen.“

Auch Alejandro Calvillo betont in einem Gespräch die neue Dimension der Überwachung:

„Wir werden seit zweieinhalb Jahren beobachtet. Wichtige Dokumente verschwinden spurlos aus dem E-Mail-Postfach, unser IT-System wird gehackt, Kolleg/innen werden überfallen. […] Jetzt haben wir es mit einem neuen technologischen Niveau zu tun. […] Du trägst jetzt einen Spion in deiner Hosentasche, einen mobilen Spion, der überall mit dabei ist. Unvorstellbar, was sie alles mit diesen Informationen anstellen können!“

Die digitalen Angriffe hinterlassen Spuren, betont Calvillo:

„Die Überwachung löst extremen Stress bei einigen Mitarbeiter/innen aus, manche können dem Druck nicht standhalten. Zeitweise mussten wir Personenschutz haben. Auch organisatorisch sehen wir uns mit neuen Herausforderungen konfrontiert, um unsere Sicherheit zu gewährleisten.“

Mexiko ist größter Kunde von NSO

Laut Citizen Lab ist Mexiko der Hauptkunde des israelischen Software-Unternehmens NSO, welches Pegasus an Regierungen verkauft, die sie im Kampf gegen Terrorismus und kriminelle Organisationen anwenden. Die Erlaubnis zum Kauf muss von der Staatsanwaltschaft des jeweiligen Landes erteilt werden. Gegen wen die Software letzten Endes eingesetzt wird, kontrolliert NSO nicht.

Auf der mexikanischen Kundenliste stehen die Bundesstaatsanwaltschaft PGR, das Verteidigungsministerium (SEDENA), sowie das Institut für nationale Sicherheit (CISEN). Die Kaufverträge sind bis 2021 nicht einsehbar. Laut der New York Times hat die mexikanische Regierung seit 2011 ca. 80 Millionen Dollar für Spionageprogramme ausgegeben. Darunter befindet sich auch ein Programm der italienischen Firma „Hacker Team“. Jeder erfolgreiche Einsatz von Pegasus koste ca. 77.000 Dollar.

„Anstelle das Geld für die Unterstützung der Opfer von Verschwundenen auszugeben, wird das Geld für illegale Überwachungszwecke verwendet“, sagte Carmen Aristegui auf einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt. Laut R3D ist dies die Spitze des Eisbergs: „Wer weiß, wie viele Personen noch überwacht werden? Wir haben es hier mit einer systematischen Einschüchterungsstrategie zu tun.“

Das Desinteresse der Regierung und der Appell an die internationale Gemeinschaft

Der Präsident Peña Nieto befand sich derweil in den Verhandlungen der OEA in der Karibik und äußerte sich zunächst nicht zu dem Thema. Die einzige Reaktion war ein Tweet des Regierungssprechers, deren Wortlaut das Desinteresse an den Vorkommnissen verdeutlicht: Es gebe keine Beweise, dass die Regierung Pegasus verwendet habe. Erst vier Tage später meldet sich Peña Nieto zu Wort. Er bestreitet die Vorwürfe. Er erhalte auch Nachrichten von unbekannten Absendern, das gehe vielen so, aber er passe immer auf, wenn er per Telefon kommuniziere. Er werde gegen diejenigen vorgehen, die diese falschen Vorwürfe gegen die Regierung erhoben hätten.

Der letzte Satz veranlasste die zivilgesellschaftlichen Organisationen zu zahlreichen Kommentaren: „Das ist zynisch, Peña Nieto bedroht jetzt diejenigen, die auf den Fall aufmerksam machen“, twittert Carlos Brito von R3D. „Ich erwarte nichts mehr von Enrique Peña Nieto, und dennoch enttäuscht er mich aufs Neue. Wir leben in einer Diktatur #GobiernoEspía.“

Auf die angekündigte Untersuchung der Regierung setzen sie wenig Hoffnung: „Wenn die Staatsanwaltschaft Pegasus benutzt, wird sie kaum einen Untersuchungsprozess in die Wege leiten und sich selbst zur Rechenschaft ziehen“, so Mario Patrón, „daher fordern wir eine Aufklärung durch eine unabhängige Expert/innenkommission.“

Auch Alejandro Calvillo appelliert an die internationale Gemeinschaft:

„Es kann nicht sein, dass die europäische Union Verhandlungen mit Mexiko führt, während letztere die Demokratieklausel nicht einhält. In einigen Tagen sollen Neuverhandlungen stattfinden, in denen auf diesen Fall aufmerksam gemacht werden sollte“, und er fügt noch hinzu: „Wir können jetzt noch nicht das Ausmaß dieser Spionagefälle ausmachen. Besonders riskant ist die Arbeit der Journalist/innen: Durch die Spionage werden die Quellen und ihre Familien in Gefahr gebracht.“

Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Journalist/innen. Seit dem Jahr 2000 wurden laut Article 19 einhundertsechs Journalist/innen umgebracht.

 

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